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Verrat am Menschen

  Ich schreibe hier nur ein paar mir wichtig erscheinende ganz persönliche Gedanken zu den Erfahrungen von Natascha Kampusch auf, denn bei einem Buch wie diesem wirkt ein klassisches "Produktbewertungssystem" geradezu absurd und schnell mal wie Hohn. Wer will sich denn bitte auch anmaßen, die Erfahrungen von Natascha Kampusch zu ''bewerten''! Ein derartiges Buch nimmt man - vorausgesetzt man hat eine lebendige Seele im Leib - erschüttert zur Kenntnis oder eben auch nicht, aber sich zu versteigen, hier ernsthaft ''werten'' zu wollen oder gar etwas anzuzweifeln, erscheint mir als Inbegriff von Vermessenheit und Herzlosigkeit. Natürlich kann man über den Schreibstil (der sehr gut ist), die Aufmachung des Buches und Ähnliches sprechen, wenn man dies wirklich für wichtig hierbei hält, aber so ein Buch ist sicher nicht zu unserer ''Unterhaltung'' geschrieben. Auch wenn es offensichtlich Menschen gibt, die leider nichts weiter mehr wahrnehmen können, als sich selbst, und deshalb genau dieses irrtümlicherweise wohl meinen und damit alles noch viel schlimmer machen, als es eh schon ist. Die unerhörten Reaktionen mancher Menschen auf die Erfahrungen von Frau Kampusch belegen, in was für einer kranken und vor allem lieblosen Gesellschaft wir tatsächlich leben. Damit bringt dieses Buch sehr viel mehr ans Licht, als ein einzelnes Verbrechen an einem Individuum. Es macht die Entmenschung unserer materialistischen und gottlosen Zeit erkennbar. Es ist wirklich traurig, zu sehen, auf was für blöde Fragen Frau Kampusch in Interviews oft antworten soll und wie oft von ihr erwartet wird, dass sie sich rechtfertigt für Unsinn, der in der Regel nur in den hohlen Köpfen gewisser so genannter Journalisten herumspukt. Die Geschichte von Frau Kampusch ist unglaublich lehrreich auch durch alles das, was sie jetzt an Reaktionen nach sich zieht. Mit solch einem Buch gehen wir alle auf unterschiedliche Weise um, je nach Charakteranlage und Menschenbild. Verbrechen wie diese, in einem Buch erzählt, offenbaren viel Heuchelei, aber wecken auch wache Herzen zur aufrichtigen Anteilnahme und regen zum Nachdenken an. Unsere Gesellschaft bekommt den Spiegel vorgehalten, und damit können und wollen viele nicht wirklich umgehen. So kommen die drolligsten Reaktionen zu Stande, bis hin zu der absurden Behauptung, Frau Kampusch - damals 10 Jahre alt - hätte sich alles nur ausgedacht und ähnliche Späße. Und selbst wenn es Gestalten gibt, die es lautstark kritisieren, dass die Erlebnisse von Frau Kampusch in einem Buch oder Film den Menschen erzählt werden, ist es meines Erachtens unendlich wichtig, dass diese Geschichte uns allen zugänglich gemacht wird, auf dass wir hinschauen und erkennen, was Menschen im Stande sind, anderen anzutun, und dass hinter den hübschen modernen Fassaden unserer Zeit sich allzu oft eine scheußliche Fratze der Unmenschlichkeit versteckt. Auch weil der Entführer von Frau Kampusch ihr über Jahre hinweg einhämmerte, dass sie niemand suchen würde, niemand sie liebt, dass keiner sie vermissen würde, nicht einmal ihre Eltern usw., soll die Welt jetzt wahrnehmen, was passiert ist. Auch dies ist ein wichtiger Teil für die Heilung der Wunden am Seelenleben. Das charakterliche Muster von Wolfgang Priklopil ist so selten leider nicht in unserer Gesellschaft. Auch wenn es nicht immer dermaßen extreme Ausmaße annehmen muss, ist so mancher gewalttätige Ehemann, der seine Frau oder Kinder misshandelt und erniedrigt, moralisch auf ganz ähnlichem Niveau. Es gibt erschreckend viele Menschen ohne jegliche Liebe oder Respekt vor dem menschlichen Individuum. Es gehört ein unglaubliches Ausmaß an Selbstsucht und Gewissenlosigkeit dazu, ein Kind von 10 Jahren zu entführen und über 8 1/2 Jahre zu diskriminieren und zu quälen, nur um irgendwelchen egoistischen Wahnvorstellungen oder Wünschen zu genügen. Dies setzt völlige Selbstzerfressenheit, die nur noch das eigene Ich als real wahrnimmt, voraus. Herr Priklopil wollte die Persönlichkeit seines Opfers systematisch auslöschen, um eine neue nach seinen kranken Vorstellungen quasi neu zu erschaffen. Mit dem bloßen Bedürfnis nach "Liebe" ist so etwas ganz bestimmt nicht begründbar. Nach Liebe suchen viele, aber nur ganz wenige kommen dabei auf solch grausame Ideen. Liebe ist das auch ganz sicher nicht. Unser Leben hat einen tiefen moralischen Ernst, den ganz viele heute bloß versuchen hinweg zu reden mit intellektuellen Konstrukten oder Vorurteilen, damit sie sich nicht damit befassen müssen. Der Mensch ist natürlich kompliziert und vielschichtig, nicht bloß schwarz oder weiß. Allerdings sind wir ganz bestimmt auch nicht alle gleich; es gibt große Unterschiede in der moralischen Ausrichtung und dem Ton der Herzen. Und selbst wenn es vielen heute als "überholt" gilt und manche sich einbilden, längst "darüber hinaus zu sein" oder "aufgeklärt" usw., ist das Moralische, die Frage nach Gut und Böse in Wahrheit die Essenz unserer menschlichen Existenz. Moralische Fragen sind es, die unser tägliches Leben bewegen und bestimmen, und deshalb interessieren sich die Menschen auch für solche Bücher und Ereignisse. Mit Psychologie und materialistischer Menschenkunde wird man niemals die Abgründe einer Seele, wie die Wolfgang Priklopils begreifen können. Materialistische Psychologie macht aus dem Bösen im Menschen am Ende ja doch nicht viel mehr, als ein gestörtes Mischverhältnis gewisser Chemikalien im Körper oder eine genetische Determinierung, für die der arme Mensch am Ende ja doch nichts kann usw. Die Seele und der Geist des Menschen sind vielen längst nur noch die Summe physisch-chemischer Reaktionen im Leibe. Es bleibt so letztendlich keine moralische Verantwortung des Menschen mehr übrig. Der Materialismus macht alles so nur noch unverständlicher und finsterer und führt unsere Gesellschaft ganz notwenig immer weiter in faschistoide Gefilde hinein. In Wahrheit ist nämlich gerade dieser Materialismus der eigentliche Grund unserer Entmenschung. Er ist der eigentliche Verrat am Menschen! Leerem Intellekt mag er ja zeitweilig genügen, dem lebendigen Herzen genügt er aber nie. In einem geistlosen mechanischen Weltbild haben der Mensch und die Menschlichkeit keinen realen Platz, und es gibt viele, die daraus dann irgendwann praktische Konsequenzen ziehen und sich entsprechend entwickeln. Nur mit tiefer innerer Unwahrhaftigkeit und Heuchelei kann man den Weltanschauungsmaterialismus und Sozialdarwinismus mit menschlicher Moral zusammenleimen. Ich bin bestimmt kein Freund von traditionellen Religionen, aber ich glaube an den Geist und an den moralischen Sinn des Lebens. Der Mensch ist nicht bloß ein mechanisch-chemischer Leib, der wie ein Roboter programmiert und durch Gene und Erbanlagen determiniert durchs Leben rollt, sondern er ist eine moralisch verantwortliche geistige Individualität, dessen Existenz weit über Geburt und Tod hinausreichen. Vieles ist dabei in unsere Freiheit gelegt, und es ist nicht unwichtig, mit was für Ideen wir unseren Geist und unsere Seele bilden und unseren inneren Menschen ernähren. Wir haben es durchaus längerfristig in der Hand, was wir aus uns machen. Deshalb sind wir für unsere Sünden sehr wohl auch verantwortlich. Jedenfalls spielt die Weltanschauung, die wir haben, eine große Rolle dabei, wie wir mit diesem Buch oder solchen Erscheinungen innerhalb der Gesellschaft umgehen. –

Die Würde und Stärke, mit der Frau Kampusch diese 8 1/2 Jahre Hölle überstanden hat, ist unendlich bewundernswert. Sie hat mich persönlich sehr beeindruckt mit ihrer Ehrlichkeit, Tapferkeit, Intelligenz und Tiefgründigkeit, die von Anfang an in ihrem Buch durchkommen. Sie ist eine schöne und große Seele; und aus mir spricht hier jetzt ganz sicher nicht bloß Mitleid. Sie zeigt Gedanken in ihrem Buch, die moralische Größe und Stärke beweisen. Frau Kampusch hat sich in diesem Leben sehr viel vorgenommen. Sie trägt ein mächtiges Kreuz für uns alle, unter dem viele andere schnell zusammengebrochen wären. Es gibt nur wenige, die solche Erlebnisse überhaupt überstanden hätten, ohne als Individuen komplett zu zerbrechen. Natascha Kampusch war stärker als ihr Peiniger; sie wird auch stärker sein als ihre Kritiker. Wenn ich sie heute in Interviews sehe, freut es mich sehr, wahrzunehmen, wie gut sie alles bisher verarbeitet hat. Sie wirkt viel gefasster und stärker, als noch zu Beginn. Sie ist sanft und ihr Ton ist liebevoll. Sie spricht klar und deutlich, kann sich gut ausdrücken und schaut ihrem Gegenüber selbstbewusst in die Augen. Da ist viel passiert seit ihrer Flucht, und ich hoffe, dass es den Böswilligen in unserer Zeit nicht gelingt, sie zu sehr zu verunsichern und zu verhindern, dass Natascha Kampusch irgendwann vielleicht wieder ganz vertrauen kann. Ich wünsche ihr von Herzen, dass viele gute Menschen ihren Weg kreuzen mögen. Der Täter soll auf ganzer Linie gescheitert sein und sie sogar am Ende stärker gemacht haben, als sie es vorher war, was das Gegenteil dessen ist, was er bezweckte. Dann hat die freie Persönlichkeit und Menschlichkeit in Frau Kampusch wirklich gesiegt. Wir können Gewalt und Lieblosigkeit, die wir erfahren, oft nicht ändern, aber was wir daraus machen und wie wir damit umgehen, dass liegt in unserer Hand. Hier ruht das eigentliche Mysterium unserer Freiheit. Nur deshalb, weil Freiheit sein soll, da sie die notwendige Grundlage ist zur Menschwerdung, zu wahrer Liebe und Menschlichkeit, existiert ein Raum für das Böse auf Erden. Aber Gottes Gerechtigkeit hat einen langen Atem, viel länger, als es materialistische Vorurteile und menschlicher Intellekt überschauen können, weshalb viele nicht mehr an Gerechtigkeit glauben möchten. Es gibt moralische Naturgesetze, denen sich niemand entziehen kann, auch durch Selbstmord nicht. Jeder Mensch, jede Seele wird sich den eigenen Sünden und Taten irgendwann stellen müssen. In einem Interview vor einigen Jahren sagte Frau Kampusch sinngemäß: "Ich weiß nicht woher ich dies weiß, aber ich weiß ganz sicher, dass alles Böse und Lieblose, das Menschen tun, irgendwann auf sie zurückfällt." Davon bin auch ich überzeugt. Der feige Selbstmord von Herrn Priklopil wird ihn nicht vor den Konsequenzen seines Lebens retten können; da täuschen sich viele ganz gewaltig gerade in unserer Zeit.

Ich möchte zum Schluss noch etwas sagen zu denen, die seltsamerweise tatsächlich meinen, dass Frau Kampusch kein Geld verdienen darf mit ihrer Geschichte: Besonders in unserer hohlen Zeit verhuren sich so viele Menschen bereitwillig restlos des Geldes wegen und mit absoluten Sinnlosigkeiten, die die Welt nicht braucht. Kaum etwas ist zu billig als Mittel zur Bereicherung. Das Martyrium von Frau Kampusch hingegen muss erzählt werden, und wieso soll sie dabei nicht ebenso Anteil haben, und Geld verdienen? Es ist wichtig, dass ihr Buch und Film existieren. Neben dieser Geschichte wirkt so vieles heute völlig hohl und wertlos, was gedruckt oder verfilmt und gekauft wird. Ihr wurden außerdem kostbare Jahre des Lebens gewaltsam geraubt; Jahre, in denen andere junge Menschen Zeit haben, sich eine Existenz aufzubauen. Diese Möglichkeit hatte Frau Kampusch nicht. Umso mehr hat sie jetzt das Recht, Geld zu bekommen für das Erzählen ihrer Geschichte. Daran ist absolut nichts Verwerfliches oder Unanständiges. Viel mehr ist die Kritik daran unanständig und himmelschreiende Heuchelei. Ich persönlich hoffe, dass sie Millionen und Abermillionen verdient, sodass sie sich so frei und unabhängig wie irgend möglich den Rest ihres Lebens gestalten kann. Wer hätte sich dies bitte mehr verdient, als Frau Kampusch!? Wer durch die Hölle geht, verdient alles, was im Himmel und auf Erden Freiheit, Ruhe und Trost geben kann. Ich wünsche ihr aber vor allem das, was Geld eben nicht geben kann: ganz viel Licht, Kraft und Liebe. Sie hat sehr jung viel Unmenschlichkeit erfahren müssen; jetzt sollte sie vor allem Menschlichkeit erfahren. –


Michael Kiske

 

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